Intuition und Wissen
Über 48.000 Menschen beschäftigt der Volkswagen Konzern in der Forschung und Entwicklung. Es sind ihre Ideen, die den technischen Fortschritt beflügeln. Doch wie sorgt Volkswagen dafür, dass Innovationen und Kundenwünsche zusammenpassen? Ein Blick hinter die Kulissen.
Text: Johannes Winterhagen ___ Fotografie: Urban Zintel, Marc Trautmann
Eine ultimative Fahrmaschine? Den komfortablen Raumgleiter, der Platz für die ganze Familie bietet? Oder doch ein Carsharing-Modell, das die Wahl zwischen beiden Alternativen lässt? Die Ansprüche, die Menschen an ihre individuelle Mobilität stellen, sind so unterschiedlich wie die Lebensentwürfe in der postmodernen Gesellschaft.
Heerscharen von Marktforschern erheben Daten zu Kundenwünschen, differenziert nach Altersgruppen, Regionen und gesellschaftlichem Status. Und doch handelt es sich stets um Momentaufnahmen. Für einen Automobilhersteller wie Volkswagen, der in allen Weltregionen aktiv ist, gilt es, heute schon zu wissen, was sich die Kunden übermorgen möglicherweise wünschen – und in der Forschung und Entwicklung die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass die Erfüllung dieser Wünsche möglich wird.
Langfristige Entwicklungen erkennen und Ingenieure inspirieren
Berlin. Der Blick von Wolfgang Müller-Pietralla (54) schweift über die blitzblank geputzten Fahrzeuge in der neuen Konzernrepräsentanz. Im Mai 2015 eröffnet, stellt das „DRIVE.“ Ideen zu künftiger Mobilität genauso aus wie aktuelle Modelle. Da fällt Müller-Pietralla eine Ducati auf. Er lächelt und tritt an die Maschine heran. „Auch wenn sich vieles ändert, es gibt Konstanten“, sagt der Leiter der konzernweiten Zukunftsforschung. „Mobilität ist und bleibt mit Emotionen verbunden.“
Gleichzeitig verändern sich die Ansprüche an das Leben und die Mobilität durch die Digitalisierung rasch, davon ist Müller-Pietralla überzeugt: „Die Menschen gewöhnen sich daran, dass sie die ganze Welt über ihr Smartphone erreichen. Das wird auch im Auto erwartet.“ Daher ist es Aufgabe eines Automobilherstellers, zu nahtlos vernetzter Mobilität in einer immer komplexeren Welt beizutragen. Beispielsweise erwartet der Autofahrer in einigen Jahren ein nahezu parkfreies Fahrerlebnis. Das bedeutet: Das Auto parkt autonom ein und steht „auf Zuruf“ am gewünschten Ort.
Müller-Pietrallas Team ist von Informatik über Bionik bis hin zur Philosophie multidisziplinär aufgestellt und der Zukunft mit wissenschaftlichen Methoden auf der Spur. Basierend auf der Analyse zukunftsrelevanter Entwicklungen entstehen gemeinsam mit den Marken und Fachbereichen zukünftige Strategien und Innovationen. Dieses Vorgehen hat sich bewährt: „Vor zehn Jahren erkannten wir, dass mit dem Aufkommen neuer Technologien Licht für die Kunden eine signifikante Rolle spielen wird“, so Müller-Pietralla. Eine Vielzahl neuer Technologien hielt Einzug, bis hin zum adaptiven Laserscheinwerfer, der nicht nur die Straße besser ausleuchtet, sondern mit seinem Licht den Fahrer in der Dunkelheit auch wacher hält.
Die Zukunft voraussehen, das kann auch ein Zukunftsforscher nicht. „Doch wir können langfristige Entwicklungen erkennen und Ingenieure inspirieren“, sagt Müller-Pietralla. „Intuition und Wissen sind dabei keine Gegensätze. Menschliche Intuition basiert auf Erfahrungen sowie Vorstellungen und führt oft zur besten Lösung für den Kunden.“
Menschen vernetzen und Ideen fundiert bewerten
Wolfsburg. „Denk:Raum“ nennt Jennifer Sarah Geffers (38) das Besprechungszimmer in einem Bürogebäude am Rande der Innenstadt. Nicht nur dem Namen nach unterscheidet der „Denk:Raum“ sich von vielen anderen Räumen im Konzern. An der Stirnwand hängt eine sechs Meter lange Tafel, an der viele Menschen gleichzeitig schreiben und miteinander diskutieren können. Im Regal stehen neben Stiften in vielen Farben auch Legosteine. Mit Spielerei hat all das dennoch nichts zu tun. „Es geht darum, gute Ideen schnell visualisieren zu können“, erläutert Geffers, die den „Ideation:Hub“ zusammen mit einem Kollegen in einem sogenannten „Leitungs-Pairing“ innerhalb der Konzern-IT verantwortet.
Als „Drehkreuz für Ideen“ könnte man die im Oktober 2015 eingeführte Einheit auch beschreiben. „Ideen entstehen bei uns überall“, so Geffers. Beispielsweise im ebenfalls neu gegründeten „Digital:Lab“ in Berlin, dem „Data:Lab“ in München oder auch in den einzelnen Fachbereichen und Konzernmarken. „Als Impulsgeber für die Mobilität der Zukunft ist außerdem der Dialog mit Start-ups außerhalb des Konzerns wichtig.“ Menschen mit Ideen zu vernetzen, sieht Geffers, die ein Studium in Vertriebsmanagement abgeschlossen hat, daher als ihre wichtigste Aufgabe.
Dafür hat Geffers mit den „Digital Future Days“ ein eigenes Veranstaltungsformat geschaffen. In diesen Workshops kommen Experten aus dem gesamten Konzern zusammen und diskutieren eine konkrete Frage. Beispielsweise: Wie können wir eine konzernweite Kunden-Identifikation einführen? Was auf den ersten Blick nach einer technischen Detailfrage klingt, ist im Zeitalter der Digitalisierung von großer Bedeutung: „Nur wenn wir einen Kunden eindeutig identifizieren können, selbst wenn er sein Fahrzeug bei einem unabhängigen Händler oder gebraucht gekauft hat, können wir ihm maßgeschneiderte digitale Dienstleistungen anbieten: etwa Apps oder Service-Angebote speziell für sein Fahrzeugmodell“, erläutert Geffers.
Die gezielte Suche nach Ideen ist ein Aspekt der Arbeit im „Ideation:Hub“. Der zweite, nicht weniger wichtige: Ideen fundiert zu bewerten. So übernimmt Geffers für die Konzern-IT die Nachbetreuung sogenannter „Hackathons“, Veranstaltungen, auf denen junge Programmierer gemeinsam neue digitale Lösungen und Apps entwickeln. Bei einem Wettbewerb fiel ihr so die App „Carvatar“ auf: Spielerisch fordert das Programm den Autobesitzer dazu auf, sein Fahrzeug gut zu behandeln, also zum Beispiel keinen Service-Termin zu verpassen. Wenn eine Idee wie diese innovativ und umsetzbar erscheint, vernetzt Geffers den IT-Nachwuchs mit Experten aus dem Konzern. Keine wertvolle Idee zu übersehen, das ist eine andere Beschreibung für Geffers Mission. Denn sie ist davon überzeugt: „In zehn Jahren ist das Auto ein Vehikel für digitale Services.“
Mit pilotiertem Fahren die Zeit im Fahrzeug genießen
Ingolstadt. Ein riesiges Plakat empfängt die Besucher im Büro von Thomas Müller (39). Es zeigt einen Audi RS 7 Sportback1 auf dem Hockenheimring. Fahrerlos umrundete dieser die Rennstrecke in weniger als zwei Minuten. Müller gehört zum kleinen Kreis von Entwicklern, die sich 2010 vornahmen, Audi zum Vorreiter des hochautomatisierten Fahrens zu machen; er selbst übernahm die Projektleitung. Doch was motiviert ihn? Geht es ihm darum, den Fahrer überflüssig zu machen? Müller widerspricht entschieden: „Im Gegenteil, es geht um Selbstbestimmung! Das pilotierte Fahren soll es dem Menschen ermöglichen, Herr über seine Zeit zu werden.“ Schon bald soll das erste Modell in Serie gehen, bei dem der Fahrer im Stop-and-go-Verkehr einen Staupiloten aktivieren kann. Auf der Autobahn übernimmt der Pilot bei Geschwindigkeiten bis zu 60 km/h dann nicht nur das Gasgeben und Bremsen, sondern auch die Lenkung.
Die technischen Fortschritte bei der Automatisierung des Fahrens sind groß. So ist die zentrale Steuerelektronik, die bei den ersten Testfahrzeugen noch den kompletten Kofferraum füllte, inzwischen nur noch so groß wie ein Laptop. Dennoch dämpft Müller die Erwartung, dass bald überall hochautomatisiert gefahren werden kann – und das liegt nicht nur an der Technik, der Infrastruktur und den gesetzlichen Vorgaben. Es liegt auch am Menschen: „Der Fahrer muss Vertrauen in ein selbstfahrendes Auto entwickeln, daher ist es richtig, Schritt für Schritt voranzugehen.“
Überhaupt redet Müller mehr vom Menschen als von Technik. Denn die Schnittstelle zwischen Fahrer und pilotiertem Auto muss viel mehr können als in heutigen Fahrzeugen. So gilt es, dem Fahrer immer eindeutig zu signalisieren, ob er sich im Automatik-Modus befindet oder ob er selbst das Fahrzeug steuern soll. Innerhalb von zehn Sekunden soll der Fahrer, auch wenn er sich gerade noch mit seinen E-Mails beschäftigt hat, das Steuer wieder übernehmen können. Und schließlich soll sich das pilotierte Fahren auch gut anfühlen. „Es wird nicht so sehr darum gehen, besonders schnell ans Ziel zu kommen, sondern die Fahrzeit in einem komfortablen und schönen Innenraum zu nutzen“, so Müller. „Jeder wird dann für sich entscheiden, ob er die Zeit dazu verwendet, zu arbeiten oder einfach zu genießen – wie beim Flug in der Business-Class einer guten Fluglinie.“ Mit einem entscheidenden Unterschied: Man kann jederzeit wieder selbst zum Piloten werden.
Neue Bedienkonzepte und Display-Technologien frühzeitig testen
Södertälje. Drei große Bildschirme bilden einen Halbkreis vor der Fahrerkabine, die in einem abgedunkelten Labor steht. Anna Selmarker (46) sitzt auf dem Fahrersitz und setzt den Fuß auf das Gaspedal. „Wir fahren jetzt durch eine virtuelle Welt“, erläutert die Software-Ingenieurin, die für die HMI-Entwicklung des Nutzfahrzeugherstellers Scania verantwortlich ist. HMI steht für „Human Machine Interaction“, die Interaktion zwischen dem menschlichen Fahrer und seinem Arbeitsplatz. Der Fahrsimulator ist Selmarkers wichtigstes Werkzeug. Hier lassen sich neue Bedien- und Anzeigekonzepte in einem sehr frühen Entwicklungsstadium testen. Dies geschieht aber nicht nur durch Scania Ingenieure, sondern auch durch Lkw-Fahrer, die als Probanden bereits heute ihren zukünftigen Arbeitsplatz testen und mitgestalten können.
Die Arbeit der Fahrer wird sich durch die digitale Vernetzung von Lkw und Spedition deutlich verändern. So können immer mehr Informationen über den Truck und das Fahrverhalten bezogen werden – zum Beispiel Mitteilungen über spontane Routenänderungen, die zu weniger Leerfahrten und damit auch zu einer geringeren Umweltbelastung beitragen. Die Herausforderung: Theoretisch gibt es viele Möglichkeiten, dem Fahrer Informationen darzustellen, zumal immer wieder neue Display-Technologien zur Verfügung stehen. Es gibt dabei aber eine klare Priorität: „Wir wollen herausfinden, wie digitale Anzeigen so gestaltet werden können, dass der Fahrer niemals vom Straßenverkehr abgelenkt wird.“
Besonderes Gewicht gewinnt die Arbeit an neuen HMI-Konzepten für automatisiert fahrende Nutzfahrzeuge. Scania arbeitet in einem Forschungsprojekt am sogenannten „Platooning“: Lkw fahren auf der Autobahn in Kolonne voll automatisiert dem ersten Fahrzeug hinterher. Bei geringem Abstand entsteht kaum Luftwiderstand, ähnlich wie beim Windschattenfahren in einem Radrennen – somit sinkt auch der Kraftstoffverbrauch. Das automatisierte Fahren erhöht zudem die Sicherheit auf der Straße, da die Gefahr von Auffahrunfällen durch Unachtsamkeit deutlich sinkt. „Diese Art des automatisierten Fahrens benötigt völlig neue Informationskonzepte“, erklärt Selmarker. Zum Beispiel kann der Fahrer rechtzeitig darüber informiert werden, wenn ein vor ihm fahrender Lkw die Kolonne verlässt. Der Prototyp für ein solches Display ist mittlerweile programmiert. Über eine Chat-Funktion können sich die in einer Kolonne zusammengespannten Fahrer sogar für eine gemeinsame Pause an der nächsten Raststätte verabreden. „Solche kommunikativen Elemente sind für die Fahrer wichtig“, sagt Selmarker. „Wir sorgen dafür, dass sie sicher zu bedienen sind.“
Vier Menschen, vier Berufe, vier verschiedene Aufgaben im Volkswagen Konzern. Was sie eint: Sie suchen nach Antworten auf die Frage, wie wir uns in Zukunft bewegen. Dabei haben sie immer den Menschen im Blick. Denn eine Idee ist erst dann gut, wenn sie das Leben des Kunden bereichert.
1 Audi RS 7 Sportback Kraftstoffverbrauch in l/100 km kombiniert 9,5; CO2-Emissionen in g/km kombiniert 221; Effizienzklasse E.